Nachfolge ist mehr als der Wechsel an der Spitze. Sie ist eine der intensivsten persönlichen Entscheidungen im Leben der NextGen. Wie Nachfolger:innen ihren eigenen Weg zwischen Pflicht, Familie und Selbstbestimmung finden und warum echte Nachfolge immer bei einem selbst beginnt.
In Deutschland stehen in den kommenden zehn Jahren rund 190.000 Familienunternehmen vor einer Nachfolgeregelung – so schätzen aktuelle Studien von KfW und dem Institut für Mittelstandsforschung (IfM Bonn). Für viele Familien ist dies die wohl größte Herausforderung der nächs-ten Dekade. Und für die Nachfolger:innen selbst ist es eine der wichtigsten Lebensentscheidungen überhaupt.
Denn Nachfolge in einem Familienunternehmen ist weit mehr als eine berufliche Karrierewahl. Es geht um Identität, Verantwortung, Beziehungen und die eigene Lebensplanung. Die zentrale Frage lautet nicht nur: „Passe ich in dieses Unternehmen?“, sondern auch: „Passt dieses Unternehmen mit seiner Kultur, seiner Strategie und seinen Strukturen zu mir?“
Genau hier zeigt sich ein Generationswechsel im doppelten Sinn: Die NextGen unterscheidet sich oft grundlegend von der Vorgänger-Generation – in ihren Werten, ihren Lebensentwürfen, ihren Vorstellungen von Führung und Unternehmertum. Während die Senior-Generation häufig von Pflichtbewusstsein, Tradition und Kontinuität geprägt ist, denkt die NextGen stärker in Begriffen wie Selbstverwirklichung, Sinn, Nachhaltigkeit oder internationaler Perspektive.
In meiner Arbeit mit NextGens erlebe ich täglich, wie schwierig und gleichzeitig bereichernd diese Auseinandersetzung sein kann. Nachfolger:innen müssen lernen, ihre eigenen Antworten zu finden – jenseits von familiären Erwartungen, tradierten Pfaden oder vermeintlichen Automatismen.
Die entscheidenden Antworten entstehen in der Beratung oft erst, wenn wir die Nachfolge in ihre einzelnen Facetten zerlegen: das persönliche Lebensbild, die Familiendynamik, die Anforderungen des Unternehmens und auch die Vermögensfragen. Mit dieser Struktur können Nachfolger:innen reflektieren, wo sie stehen – und welche Rolle wirklich zu ihnen passt.
Persönliche Ebene – Wer bin ich und was will ich?
Die persönliche Ebene ist der Dreh- und Angelpunkt jeder Nachfolgeentscheidung. Bevor über Zeitpunkte, Rollen oder Unternehmensstrukturen gesprochen wird, braucht es Klarheit über das eigene Lebensbild.
Viele Nachfolger:innen stehen an einer Kreuzung: einerseits die Chance, ein über Generationen aufgebautes Unternehmen weiterzuführen. An-dererseits die Frage: Will ich das wirklich? Und wenn ja, auf welche Weise?
Typische Fragen, die sich NextGens stellen:
- Passt die Nachfolge zu meinem persönlichen Lebensentwurf?
- Was ist meine tiefere Motivation: Pflichtgefühl, Gestaltungswille, Sinnsuche, Wohlstand
- Welche Werte sind mir wichtig und finde ich sie im Unternehmen wieder?
- Bin ich bereit, diese Verantwortung zu übernehmen?
- Welche Kompetenzen bringe ich mit und welche Fähigkeiten muss ich mir aneignen?
- Welche Rolle passt zu meiner Persönlichkeit: Unternehmer:in, Manager:in, Beirat, Gesellschafter:in?
- Wie soll mein Leben aussehen?
- Wie gehe ich mit Zweifeln, Ängsten und Erwartungsdruck um?
Ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis: Eine junge Nachfolgerin aus einem Maschinenbauunternehmen kam zu mir mit der klaren Vorstellung, dass sie „automatisch“ Geschäftsführerin im eigenen Unternehmen werden müsse. Doch in den Coachings wurde deutlich: Ihre Leidenschaft lag im Bereich Naturwissenschaften, ihre Stärke in Forschung und Analyse. Durch die Reflexion konnte sie erkennen, dass die operative Führung nicht zu ihr passte. Stattdessen fand sie eine erfüllende Rolle als aktive Gesellschafterin und Beirätin – und das Unternehmen profitierte von ihrer Expertise in ganz anderer Weise.
Die persönliche Klarheit kommt vor jeder unternehmerischen Entscheidung. Nur wer weiß, was er oder sie selbst will, kann tragfähige Antworten auf die Nachfolgefrage finden. Je klarer die Nachfolger:innen ihre Antworten formulieren, desto offener und konstruktiver verlaufen meist auch die Gespräche mit der Senior-Generation und dem Unternehmen selbst.
Ein klares „Ja, ich will“ ist sowohl für die Übergebenden als auch für das Unternehmen und die Mitarbeitenden entscheidend. Wer über längere Zeit ambivalent bleibt, gefährdet letztlich die Entscheidungsfähigkeit des Unternehmens.
Familienebene – Erwartungen, Rollen, Loyalitäten
Typische Spannungsfelder entstehen durch Geschwisterkonstellationen, den Wunsch nach Gleichbehandlung oder unausgesprochene Loyalitäten gegenüber Eltern oder Großeltern. Wenn diese Fragen nicht offen besprochen werden, kann der „NEM-Virus“ – Neid, Eifersucht und Missgunst – schnell um sich greifen.
- Was sind unsere familiären Werte, Ziele und unser Selbstverständnis als Unternehmerfamilie?
- Wie ist die Einstellung der Familie zum Unternehmen?
- Welche Erwartungen bestehen – ausgesprochen oder unausgesprochen?
- Wie gehen wir mit Geschwisterkonkurrenz um?
- Welche Konfliktfelder gilt es zu berücksichtigen?
- Wie soll das Verhältnis von Familie und Un-ternehmen künftig gestaltet sein?
Gute Prozesse schaffen einen Raum, in dem gesprochen werden darf – auch über die Dinge, über die sonst lieber geschwiegen wird. Es geht nicht darum, möglichst schnell zu Einigkeit zu kommen. Es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen, unterschiedliche Sichtweisen sichtbar zu machen und daraus ein gemeinsames Bild zu entwickeln.
Unternehmensebene – Kompetenz, Rolle, Einstieg
Leitfragen, die sich die NextGen stellen sollte:
- Wie soll sich das Unternehmen in den nächsten Jahren entwickeln?
- Welche Kompetenzen braucht es dafür?
- Welche bringe ich mit – und welche muss ich mir aneignen?
- Passt die Unternehmenskultur zu meinen Werten und meiner Art zu führen?
- Soll ich zunächst externe Erfahrung sammeln, um auf Augenhöhe akzeptiert zu werden?
- Ist das Unternehmen für mich attraktiv und zukunftsfähig?
Im Coaching ging es daher nicht nur um die Frage „Wann steigen wir ein?“, sondern vielmehr um „Wie kann gemeinsame Führung gelingen – und was braucht das Unternehmen wirklich?“ In der Analysephase wurde klar: Das Unternehmen war stark von der Persönlichkeit des Vaters geprägt – und auf ein klares Machtzentrum ausgerichtet. Eine Doppelspitze ohne klare Rollenaufteilung hätte schnell zu Reibung geführt.
Die Entscheidung fiel am Ende bewusst für ein gestuftes Modell: Der ältere Bruder übernahm zunächst die operative Leitung, der jüngere startete in einem strategischen Projektbereich mit klar definierten Schnittstellen. So konnten beide wachsen – in unterschiedlichen Rollen, aber mit gemeinsamem Ziel.
Vermögensebene – Leistungen & Ansprüche
Relevante Fragen für die NextGen:
- Welche finanziellen Leistungen erhält die Familie aus dem Unternehmen?
- Werden Versorgungsansprüche begründet? Für wen? In welcher Höhe?
- Ist die übergebende Generation finanziell unabhängig?
Der Weg zur Antwort – Entwicklung einer Next-Gen-Strategie
Ein bewährter Ansatz ist ein vierstufiges Vorgehen, das ich individuell anpasse:
- Analyse – Standortbestimmung: Wer bin ich, was treibt mich an, wie sieht das Unternehmen aktuell aus?
- Ziele – Welche Rolle passt zu mir, welche braucht das Unternehmen, und welche Erwartungen gibt es in der Familie?
- Optionen und Konzeption – Verschiedene Szenarien durchspielen: operative Führung, externe Geschäftsführung, Beirat, aktive Gesellschafterrolle.
- Umsetzung – Entwicklung eines individuellen NextGen-Fahrplans mit klaren Schritten, Lernfeldern und einer realistischen Zeitschiene.
Praxisbeispiel: Vom inneren Druck zur klaren Entscheidung
In den ersten Gesprächen ging es daher nicht um Strategie, sondern um Identität. Wir klärten, was ihn wirklich antreibt – und wo seine eigenen Werte liegen. In der Analysephase zeigte sich: Johannes brannte für Nachhaltigkeit und Digitalisierung – Themen, die im bestehenden Geschäftsmodell kaum Platz hatten.
In der Zielphase formulierten wir gemeinsam, was für ihn eine stimmige Unternehmerrolle bedeutet: Gestaltungsspielraum, Innovationsfreiheit und ein Team, das Verantwortung teilt. Auf dieser Basis erarbeiteten wir in der Optionsphase verschiedene Szenarien – von der klassischen Nachfolge in der Geschäftsführung über eine Doppelspitze mit einem externen CEO bis hin zum Aufbau eines neuen Geschäftsbereichs.
Am Ende entschied sich Johannes für Letzteres. Er übernahm keine bestehende Rolle, sondern schuf seine eigene – als Gesellschafter und Leiter einer neuen Einheit, die das Unternehmen in die Zukunft führte. In der Umsetzungsphase begleiteten wir diesen Übergang auch in der Familie: Der Vater lernte, Verantwortung zu teilen, und Johannes gewann Schritt für Schritt Sicherheit in seiner neuen Rolle. Heute sagt er rückblickend: „Ich habe nicht einfach übernommen – ich habe meinen eigenen Platz im Familienunternehmen gefunden.“
Nachfolge beginnt bei mir selbst
Ich erlebe immer wieder, dass Nachfolge nicht in einem Moment entschieden wird, sondern in vielen stillen Zwischenräumen – im Ringen mit den eigenen Erwartungen, im Gespräch mit den Eltern, in der Frage, was einem wirklich wichtig ist. Diese Prozesse brauchen Mut, Geduld und die Bereitschaft, sich selbst ehrlich zu begegnen.
Wer sich auf diese Auseinandersetzung einlässt, erkennt: Die Entscheidung für oder gegen eine Nachfolge ist kein Zeichen von Stärke oder Schwäche – sondern Ausdruck von Bewusstheit. Denn nur wer sich selbst kennt, kann Verantwortung wirklich übernehmen.
Ein strukturierter, moderierter Nachfolgeprozess schafft dafür den Raum: für ehrliche Reflexion, für den Dialog zwischen Generationen und für die Entwicklung von Perspektiven, die zur eigenen Persönlichkeit und zum Unternehmen gleichermaßen passen.
Nachfolge ist kein Akt der Pflichterfüllung, sondern ein Schritt in die eigene unternehmerische Identität – individuell, reflektiert und in Resonanz mit dem, was war, und dem, was kommen soll.